Direkt zum Inhalt


Fernseharbeit in Deutschland am Beispiel von Im Angesicht des Verbrechens

Rezension am 19. November 2016

Der Filmemacher Johannes F. Sievert hat den Entstehungsprozess der aufsehenerregenden TV-Krimiserie Im Angesicht des Verbrechens (2010) von Regisseur Dominik Graf dokumentarisch begleitet. Sein Interviewband soll Auskunft darüber geben, welche (kreativen, technischen und finanziellen) Entscheidungen einen deutschen Film zu dem machen, was er ist.

 

Johannes F. Sievert (Hrsg.): Dominik Graf, Im Angesicht des Verbrechens. Fernseharbeit am Beispiel einer Serie. Berlin: Alexander Verlag 2010 (Arte Edition).

Keine andere TV-Krimiserie hat in diesem Jahrtausend für so viel Aufsehen gesorgt wie das zehnteilige öffentlich-rechtliche Mammutprojekt Im Angesicht des Verbrechens von Drehbuchautor Rolf Basedow und Regisseur Dominik Graf. Eine verschachtelte Geschichte über die Polizeiermittlungen im Berliner Russenmafia-Milieu, hochkarätig bis in die Nebenrollen besetzt. Die Kosten dieser 500-Minuten-Serie, die im Auftrag des WDR entstand und an der sich die Sender BR, Arte, SWR, NDR und ORF beteiligten: rund zehn Millionen Euro. In die Schlagzeilen geriet Im Angesicht des Verbrechens noch in der Vorproduktion, als Dominik Graf von dem Produzenten Marc Conrad im Dezember 2007 gefeuert – und einen Monat später wieder zurückbeordert wurde (anders als die Produktionsfirma Typhoon AG wollten die Sender unbedingt mit dessen Drehbuchfassung weiterarbeiten). Der nächste Eklat folgte während der Dreharbeiten im Sommer 2008, als die Gewerbeaufsicht um drei Uhr nachts am Set vorstellig wurde (angeblich hatten sich einige Mitarbeiter über die wiederholt vorgekommenen 18-Stunden-Schichten beschwert). Was diese hohen Arbeits-Pensen deutlich machen: Im Angesicht des Verbrechens war zu knapp kalkuliert. Zu dem ohnehin schon schwelenden Konflikt zwischen Regisseur und Produzent hinzu kam ein Streit zwischen WDR und Marc Conrad darüber, wer die für die zusätzlichen Drehtage entstandenen Mehrkosten übernimmt. Als die Dreharbeiten nach mehr als 100 Tagen im Winter 2009 abgeschlossen waren und Im Angesicht des Verbrechens in die Postproduktion ging, kam der nächste Paukenschlag: Die Produktionsfirma meldete Insolvenz an – und das endgültige Aus für die Serie konnte nur verhindert werden, weil die ARD-Sender weitere Gelder in das Projekt steckten. Ein Jahr später dann Uraufführung auf der Berlinale in zwei vierstündigen Blöcken und viel Lob für das Mammutprojekt. Doch die Einschaltquoten bei der TV-Ausstrahlung auf ARD (jeweils am Freitag-Abend) blieben mit 2,11 Millionen Zuschauern und einem Marktanteil von 8,1 Prozent hinter den Erwartungen zurück, sodass der Sender die letzten Folgen schließlich zusammenlegte (was von den Medien weithin kritisiert wurde).

Diese ausführliche Darlegung erscheint nötig, um die Relevanz der Publikation von Johannes F. Sievert zu unterstreichen. Der Herausgeber ist selbst Filmemacher und begleitete die Entstehung der aufwendigen Fernsehserie mit einem Dokumentarfilm. Sein Werkstattbericht Dominik Graf, Im Angesicht des Verbrechens. Fernseharbeit am Beispiel einer Serie soll nun darüber Auskunft geben, welche (kreativen, technischen und finanziellen) Entscheidungen im Lauf des Produktionsprozesses einen Film zu dem machen, was er ist. Der Weg, den Sievert dafür einschlägt, ist vielversprechend: Interviews mit Regisseur Dominik Graf und den zentralen an der Serie beteiligten Akteuren. Noch größer wird die Spannung bei der Lektüre der „Einführung“ (S. 14-15), in der Sievert knapp die Gemengelage im Entstehungsprozess von Im Angesicht des Verbrechens skizziert (was sich selbst schon wie ein Krimi liest).

Der Kern des Buchs, über 200 Seiten Fragen von Johannes F. Sievert und Antworten von Dominik Graf (Teil 1), geht in die Tiefe. Der Leser erfährt nicht nur detailliert, wie Graf an die Umsetzung der Krimiserie herangegangen ist und welche Entscheidungen in den verschiedenen Arbeitsphasen von ihm und den übrigen Crewmitgliedern getroffen wurden (angefangen bei der Drehbuchentwicklung und dann natürlich bei den Proben und der Vorbereitung des Drehs über die Dreharbeiten selbst einschließlich der Schauspielerführung bis hin zur Postproduktion). Mindestens genauso viel Raum wird allerdings der Motivation und dem Selbstverständnis des Regisseurs Dominik Graf gegeben, seinem Werdegang und seinem Filmwerk als Ganzem. Kurzum: Die minutiös wiedergegebenen Gespräche zwischen Sievert und Graf liefern nicht nur einen exemplarischen Einblick in die Kunst, das Handwerk und den Prozess des Filmemachens, der weit über die Serie Im Angesicht des Verbrechens hinausgeht (und einen Bogen schlägt zu beinahe jedem der zahlreichen TV- bzw. Kinofilme Grafs), sondern ebenso einen Crashkurs in Sachen Filmgeschichte. Dabei ergänzen sich die beiden Gesprächspartner nach Kräften – und es kommt den Interviews sicherlich zugute, dass Sievert ein wahrer Graf-Experte ist. Seine Nähe zu dem Filmemacher beruht nicht nur auf der Tatsache, dass er die Entstehung von Im Angesicht des Verbrechens dokumentarisch begleitete; als ehemaliger Regiestudent von Graf an der Internationalen Filmschule Köln präsentiert sich Sievert schon gleich zu Beginn des Bandes als Schüler des Meisters (S. 9-11).

Hinter dem geradezu monumentalen ersten Teil müssen die Interviews mit den in den Bereichen Dreh und Produktion beteiligten Akteuren in Teil 2 fast schon naturgemäß zurückbleiben. Der Drehbuchautor Rolf Basedow, die WDR-Redakteure Wolf-Dietrich Brücker und Frank Tönsmann, der Arte-Redakteur Andreas Schreitmüller, die Producerin Kathrin Bullemer, der Kameramann Michael Wiesweg, der Szenenbildner Claus-Jürgen Pfeiffer, die Musiker Florian Van Volxem und Sven Rossenbach sowie die Cutterin Claudia Woltsch berichten eher der Vollständigkeit halber (so scheint es) über ihre Arbeit, ihre Perspektive auf Graf und natürlich das Projekt Im Angesicht des Verbrechens. Kritische Töne sind dabei anders als im ersten Teil nicht zu vernehmen und dass die TV-Krimiserie keine leichte Geburt war, klingt höchstens in den Äußerungen der Producerin an (hier wäre die Sicht von Produzent Marc Conrad bestimmt lohnend gewesen). Vervollständigt wird dieser zweite Teil schließlich mit kurzen Statements der Schauspieler (u.a. Max Riemelt, Ronald Zehrfeld und Marie Bäumer) über ihre Rollen und die Arbeit am Set (Tenor: ein Hoch auf Dominik Graf). Eine Abrundung ist dann Teil 3 (Anhang), bestehend aus einem Beitrag des Feuilletonisten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Peter Körte, einer kurzen Inhaltsangabe der zehn Teile Im Angesicht des Verbrechens sowie einem Glossar (von „Amerikanische Einstellung“ bis „Zweier“), einer Filmografie Dominik Grafs, einem Titel-, einem Personen- und einem Namenregister.

Für die Zielgruppe (laut Klappentext: Regisseure, Schauspieler und alle Filminteressierte) löst das Buch den eigenen Anspruch bestimmt ein, ein sogenanntes „Hands-on Manual“ zu liefern. Und auch wenn man sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive für das Selbstverständnis von Filmemachern und die Entstehungsbedingungen einer großen TV-Serie in Deutschland interessiert, hat Sieverts Band einiges zu bieten. Zu verweisen ist hier vor allem auf die zahlreichen Äußerungen Dominik Grafs, die eindrucksvoll verdeutlichen, mit welchen Erwartungen das Filmschaffen hierzulande konfrontiert wird, von welchen Konfrontationen und Konflikten eine Filmproduktion begleitet ist und wie intensiv auch ein renommierter Regisseur nach Kompromissen zwischen eigenem Wollen und strukturbedingten Können bzw. Sollen suchen muss. Schön, dass Graf dabei nie ein Blatt vor den Mund nimmt (um nur ein Beispiel zu nennen: „Mein deutscher Genretraum ist ja längst untergegangen in der deutschen Filmbürokratie“, S. 23). Was aber für eine explizite Antwort auf die Frage nach den (Macht-)Beziehungen, die darüber entscheiden, welche Film-Bilder von der Welt dem Zuschauer schlussendlich dargeboten werden, mit Sicherheit noch hilfreich gewesen wäre: eine Einordnung der Erkenntnisse aus den geführten Interviews vonseiten des Herausgebers, die den Leser zugleich durch den Band führt. Nichtsdestotrotz macht der Band Lust auf zehn Krimisitzungen Im Angesicht des Verbrechens, nicht zuletzt aufgrund der aufwendigen und außerordentlich ansprechenden Buchgestaltung mit zahlreichen Fotos bzw. Szenen aus der Serie.

Zur Verlagsseite

Alle Rezensionen