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Zeit der Manifeste, aber noch kein „Abschied von gestern“ in Sicht

Bericht am 15. Mai 2019

Der deutsche Arthouse-Sektor formiert sich branchenintern weiter und macht mit einem Forderungskatalog nach dem anderen auf die desolate Lage der Film- und Kinokultur hierzulande aufmerksam. Viel Zuversicht, dass schon bald strukturelle Änderungen erfolgen, kann trotzdem nicht verbreitet werden.

 

Was ist zu tun, damit internationale Kinoerfolge aus Deutschland wie Toni Erdmann keine Ausnahmeerscheinung bleiben? Wie kann der deutsche (Kunst-)Film ein größeres bzw. überhaupt ein Publikum finden und vielfältig in seiner Entstehung sowie mit Blick auf die dargebotenen Gesellschaftsbilder sein? Was muss passieren, damit das Filmschaffen hierzulande wieder eine echte Erwerbsmöglichkeit darstellt? Und wie lässt sich das Kino als relevanter Ort erhalten? Mit diesen Fragen im Gepäck rief das Lichter Filmfest in Frankfurt am Main 2017 die Sektion „Zukunft Deutscher Film“ ins Leben – getragen vom festen Glauben an das ungebrochene gesellschaftliche Potenzial des Mediums Film als Sozialisationskontext, Identitäts- und Integrationsfaktor, ja sogar als politischer Impulsgeber.

Die immer gravierender anmutenden Probleme der heimischen Kino- und Filmbranche sind damit bereits angesprochen: Der jährlich steigenden Zahl deutscher Kinopremieren steht erstens ein massiver Einbruch der verkauften Tickets in den Filmtheaterbetrieben gegenüber (14 Prozent Verlust allein 2018, was Umsatzeinbußen von über 150 Millionen Euro im Vergleich zum Vorjahr bedeutet). Ein offenes Geheimnis ist zweitens, eng damit verbunden, dass das Gros der deutschen Produzentinnen und Produzenten mit Kinofilmen kaum noch Geld verdient und prekäre Arbeitsbedingungen längst nicht nur für Nachwuchs-Filmschaffende aller Gewerke charakteristisch sind. Zu konstatieren ist drittens in der Tat, dass das exponentielle Wachstum digitaler Plattformen wie Amazon, Sky und Netflix das Kino als physischen Ort vor eine Herausforderung stellt, auf die es von der heimischen Branche bislang keine Antwort gibt. Zudem steht in Zeiten des Serienhypes auch die Frage im Raum, ob künstlerisch ambitionierte und traditionell vertriebene Langfilme aus Deutschland überhaupt noch eine Zukunft haben. Hinzu kommt viertens der nationale Filmförderkomplex und damit eine Struktur, die sich seit vier Jahrzehnten kaum gewandelt hat, auf Gedeih und Verderb mit dem Fernsehen verknüpft ist und etwa Genderungerechtigkeiten sowie Diversitätsgrenzen offenbar nicht zu beseitigen vermag.

Um den Diskurs über den deutschen Kinofilm anzukurbeln, um über Missstände, Herausforderungen und Chancen der Film- und Kinolandschaft in Deutschland zu debattieren und um Handlungsvorschläge gleichermaßen für die Branche wie auch für die Politik zu erarbeiten, lud das Lichter Filmfest im April 2018 zum Kongress zu Perspektiven der deutschen Film- und Kinokultur ein. Es kamen rund 100 Filmschaffende (aus den Bereichen Regie, Produktion, Kino und Filmfestivals, Filmförderung, Fernsehen, Schauspiel und Kritik), um ein Konzept zur Belebung des deutschen Films zu erarbeiten. Die in den „Frankfurter Positionen“ festgehaltenen Forderungen reichen von einer grundsätzlichen Reformierung der Förderstrukturen zugunsten der Kunstfreiheit und der inhaltlichen und ästhetischen Extreme (insbesondere durch die Schaffung eines genderparitätisch besetzten Intendantenduos mit voller künstlerischer Verantwortung und eine Abkehr vom Modell der Kino-Fernseh-Koproduktion) über Maßnahmen im Bereich Ausbildung und Nachwuchs (etwa die Einrichtung eines bundesweiten Filmförder-Talentfonds) bis hin zum Beschreiten neuer Wege in Sachen Distribution (mehr Verleihförderung, flexiblere Auswertungsmöglichkeiten) und Kino- bzw. Filmkultur (vor allem Investitionsbeihilfen für Kinos und Filmbildung in der Schule). Weiter diskutiert wurde beim Filmfest München (Juni 2018), auf den Hofer Filmtagen (Oktober 2018), beim Max-Ophüls-Preis in Saarbrücken (Januar 2019) sowie auf der diesjährigen Berlinale (Februar 2019). Ebenso nahm in der Folge die Initiative „Film macht Schule“ ihre Arbeit auf.

Natürlich sind die „Frankfurter Positionen“ keineswegs das einzige Statement aus der Branche, das sich in der jüngeren Vergangenheit kritisch mit den Strukturen des heimischen Filmschaffens auseinandersetzte und öffentlich Reformvorschläge unterbreitete. Große Aufmerksamkeit erhielt etwa der Gleichstellungsinitiative Pro Quote Film, die 2014 von über 370 Regisseurinnen (damals noch als Pro Quote Regie) ins Leben gerufen wurde mit dem Ziel, auf eine geschlechterparitätische Besetzung von Filmfördergremien sowie eine Erhöhung des Anteils von Filmemacherinnen am deutschen Fernsehprogramm und an deutschen Filmproduktionen hinzuwirken. Unsere Gesellschaft sei divers, bunt und vielfältig, heißt es heute. Aber viele Menschen kämen im gegenwärtigen Film- und Medienschaffen immer noch nicht vor (weder vor noch hinter der Kamera) und die politischen und kulturellen Implikationen der in Deutschland produzierten Filmbilder behinderten, dass neue Perspektiven, Diskurse, Dramaturgien und Erzählformen entstünden und ein breiteres Publikum erreichten. Die daraus abgeleiteten Forderungen an die Filmpolitik: transparente Förderkriterien und -entscheidungen, gleichberechtigter Zugang zu und fairer Wettbewerb um die zur Verfügung stehenden Ressourcen, Diversitätsstandards und Geschlechterquote.

Die Filmförderarchitektur stand auch im Fokus der „Inselgespräche Kino“ im Rahmen des Festivals des deutschen Films in Ludwigshafen im September 2018, bei der Produzenten, Filmemacherinnen, Autoren, Schauspielerinnen und TV-Redakteure auf Einladung von Festivaldirektor Michael Kötz zur Frage „Wie viel Förderung braucht der anspruchsvolle deutsche Film?“ diskutierten – und für das Fördersystem eine Radikalkur anmahnten. Ausgangspunkt war die Ansicht, dass die Förderinstitutionen zu einer „Subventionsmaschine“ verkommen seien, immun gegen Kritik, was den Fortbestand des deutschen Arthouse-Kinos gefährde. Seit der Novellierung des Filmfördergesetzes (mit einer Verschärfung der Vergabekriterien zugunsten kommerziell orientierter Projekte) werde statt „Breitenförderung“ bloß noch „Spitzenförderung“ betrieben. Die Folge: eine dramatische Ausdünnung des Spektrums deutscher Filme im Kino (obwohl doch gerade das Ludwigshafener Festival beweise, dass es auch für anspruchsvolle Werke jenseits der Top 10 ein interessiertes Publikum gebe) und eine existenzbedrohende Situation für die „Kreativen“, die eigentlich so dringend nötig seien, um „Vielfalt“, „Radikalität“ und „Relevanz“ im deutschen Filmschaffen zu gewährleisten. Demgemäß sprach sich die „Ludwigshafener Petition“ gegen die „Vermischung von wirtschaftlichen und künstlerischen Intentionen“ mit all ihren „Ungereimtheiten, Unklarheiten und Ungerechtigkeiten“ aus. Stattdessen seien zwei getrennte Förderbereiche „für entweder kommerziell dominierte oder künstlerisch dominierte Filmvorhaben“ einzurichten (mit entsprechend besetzten Gremien). Der Produzent bzw. die Produzentin eines Filmvorhabens habe dann lediglich zu entscheiden, wo der Schwerpunkt des Projekts liege und auf welcher Seite die größere Chance auf den Erhalt von Fördergeldern besehe. Denn nur vom „Druck der Refinanzierung befreit“ könne sich der künstlerische Film wieder vollends entfalten.

Mit einem klaren Bekenntnis zum Kunstfilm und dem Wunsch nach einem Kino, das in der Gesellschaft Position bezieht, gründeten darüber hinaus Angehörige der Bereiche Produktion, Regie, Kino, Verleih, Kuration und Kritik im Februar 2019 im Berliner Wolf Kino den Hauptverband Cinephilie. Dieses spartenübergreifende Forum möchte mit einer vielfältigen, aber gemeinsamen Stimme „Änderungen und Verbesserungen“ auf „gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Ebene“ erreichen („Wir rufen den Notstand der Filmkultur aus, wir rufen auf zur Cinephilie!“) und hat mittlerweile begonnen, Positionspapiere zu erarbeiten. In dem Gründungsaufruf finden sich zwar mehrheitlich allgemeine Thesen (etwa: „Das Diktat der Zahlen zerstört die Qualität des Kinos“, „Kino kann nur als sozialer, diverser und kreativer Ort überleben“, „Filmkultur begeistert! Filmkultur ist für alle da!“), aber auch erste Hinweise, wohin die Reise gehen soll („Das deutsche Fördersystem protegiert überwiegend vorkonfektionierte, monokulturelle Konsumware und marginalisiert die Filmkultur. Wir brauchen die Förderung einer ästhetisch, inhaltlich und international diversen Filmkultur“, „Filmkultur braucht Freiräume, nicht prekäre Zustände. Wir fordern ökonomische Rahmenbedingungen, die ein freies und den Filmen angemessenes Arbeiten ermöglichen“, „Filmkultur braucht Kontext und Vermittlung. Wir fordern frühe Filmbildung in und außerhalb der Schulen für eine Medienkompetenz, die nicht bei YouTube-Videos aufhört“).

Da kaum mehr ein Branchentreffen oder Filmfestival über die Bühne geht, auf dem nicht über den desolaten Zustand der deutschen Film- und Kinokultur geklagt wird, dürfte das nächste Manifest nicht lange auf sich warten lassen. Und das keineswegs zu Unrecht. Gleichwohl: Ein Signal, dass die vorgetragenen Ideen und Reformvorschläge von der Politik aufgegriffen werden, ist bis dato nicht erkennbar. Ebenso wächst tatsächlich das Risiko, dass sich die soziale Mobilisierung von Manifest zu Manifest, von Initiative zu Initiative abschwächt, anstatt sich zu verstärken, wie Lars Henrik Gass, Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, anlässlich des Aufrufs zur Cinephilie kommentiert hat. Zwar ist es durchaus beeindruckend, dass sektorenübergreifend Interessen artikuliert werden und es dabei bisweilen auch gelingt, gemeinsame Nenner zu erzielen. Doch stellt sich hier, mit Ausnahme der Initiative Pro Quote Film und ihrer klar umrissenen Forderungen, durchaus die Frage, wo genau die Revolution beginnen soll. Denn wie gesehen beinhalten die Ergebnispapiere oftmals ein Potpourri an Vorschlägen und Ideen, die eher von den spezifischen Bedürfnissen und Anliegen der jeweiligen Akteure in der Arthouse-Nische zeugen, welche zudem das gesamte Filmschaffen in Deutschland nur unzureichend abbilden.

Dieser Eindruck entstand schließlich auch auf der diesjährigen Berlinale beim Panel „Die Förderer fordern – Filmförderung zukunftsfähig machen“, die von der Initiative Frankfurter Positionen gemeinsam mit Pro Quote Film, dem Bundesverband Regie und Crew United organisiert wurde. Fest davon überzeugt, dass der Kinofilm als „Ort gesellschaftlicher Selbstverständigung“ und „eigenständige ästhetische Form“ keineswegs ausgedient habe, sollten zwei aufeinander folgende Diskussionsrunden mit Filmschaffenden, Kinobetreibern und Vertreterinnen der Filmförderung Wege aufzeigen, wie dieser angesichts der neuen digitalen Realitäten gestärkt und weiterentwickelt werden könne. Verteilt wurde dafür im Vorfeld bereits eine Broschüre mit dem bezeichnenden Titel „Abschied von gestern“. In der knapp dreistündigen Veranstaltung berichteten die Gäste auf dem Podium (darunter Karsten Stöter von Rohfilm Produktion, Björn Koll vom Verleih Salzgeber, Verena von Stackelberg vom Berliner Wolf Kino und Barbara Rohm von Pro Quote Film) dann von ihren Erfahrungen und trugen, immer wieder begleitet von Applaus, die bereits bekannten Positionen vor. Dazu gehörten die als notwendig erachtete Strukturreform der Förderinstitutionen (Intendantenmodell statt Gremium, transparente Förderkriterien und Förderentscheidungen, öffentliche Rechtfertigung), der Wunsch nach einer weiteren Änderung des Filmförderungsgesetzes (der Eigenanteil bei der Filmfinanzierung müsse beispielsweise gestrichen werden, dann ließe sich auch die bisweilen problematische Senderbeteiligung umgehen), die Forderung nach einem Ausbau der Nachwuchsförderung (etwa auch für junge Produzentinnen und Produzenten) sowie die dringend nötig erscheinende Übernahme von Geschlechterquoten und Diversitätsstandards nach dem Vorbild des British Film Institute. Und um das Publikum wieder für deutsche Arthouse-Kinofilme zu begeistern, seien allen voran Mut zur Kompromisslosigkeit (keine Bevormundung, sondern Diskurse, die neugierig machen), mehr Investitionen in die Verwertung und eine umfassende Filmbildungsarbeit erforderlich. Die eingeladenen Vertreterinnen der Filmförderung (Anna Fantl, Referentin bei der Film- und Medienstiftung Nordrhein-Westfalen, Sabine Matthiesen, Leiterin der Kulturellen Filmförderung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, und Maria Köpf, Geschäftsführerin der Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein) nahmen die formulierten Anliegen zumindest nach außen ernst, begegneten den Forderungen aber wenig überraschend mit einer gehörigen Portion Realismus, wiesen in ihren routinierten Antworten über den Kunstfilm hinaus – und gaben damit auch Einblicke, wie es wohl um die vorrangige Position der Politik bestellt ist. So sei in Sachen Transparenz schon viel geleistet worden, außerdem komme in den Fördergremien bereits ein Rotationsprinzip zum Einsatz und hätten die TV-Redakteure dort keineswegs das letzte Wort, gleichwohl sei die Senderbeteiligung an den Länderförderungen aber sinnvoll, denn sonst würde insgesamt schlichtweg viel weniger Geld zur Verfügung stehen. Was man bei der ganzen Diskussion ferner auf gar keinen Fall vergessen dürfe: Der wirtschaftliche Erfolg, also die Frage, was das breite Publikum wirklich sehen wolle, und Standortkriterien müssten im Portfolio der geförderten Filme mindestens genauso berücksichtigt werden.

Natürlich: Dicke Bretter werden nicht von einem Tag auf den anderen gebohrt. Wenn die wiederkehrenden Debatten und Aufrufe auch weiterhin nicht bloß branchenintern, sondern auch öffentlich Aufmerksamkeit erzeugen, dürften sie mittelfristig den Druck auf die Politik erhöhen, hieraus einen Handlungsbedarf abzuleiten. Mit einem raschen „Abschied von gestern“ ist gleichwohl nicht zu rechnen. Für das deutsche Filmschaffen jenseits der Top Ten ist das allerdings keine Nachricht, die besonders zuversichtlich stimmt.

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